Schofield musste etwas unternehmen. Er griff in seine Tasche und suchte nach irgendetwas, das sich darin befinden mochte.

Er zog eine britische Stickstoffgranate hervor und blickte sie eine Sekunde lang an.

Oh, was soll's, zum Teufel, dachte er.

Rasch zog Schofield den Zündstift aus der Stickstoffgranate und rammte die scharfe Granate dem großen Seeelefanten in das weit geöffnete Maul.

Dann schob er sich von den Fängen des großen Tiers weg, und die Robbe schoss im Wasser an ihm vorüber. Rasch wurde ihr klar, dass sie ihr Opfer verloren hatte, und in diesem Augenblick drehte sie sich herum.

Und genau da ging die Stickstoffgranate hoch.

Der Kopf des Bullen explodierte. Dann implodierte er. Und dann geschah das Schockierendste von allem.

Eine Woge aus Eis schoss aus dem Körper der toten Robbe.

Zunächst wusste Schofield nicht, was es war, und dann wurde es ihm plötzlich klar. Es war der flüssige Stickstoff aus der Granate, der sich im Wasser ausdehnte und es dabei zum Erstarren brachte!

Die Eiswand schoss durch das Wasser auf Schofield zu und dehnte sich dabei beständig aus, als ob eine lebendige, atmende Eisformation im Wasser wüchse.

Schofield sah mit großen Augen zu. Wenn das Eis ihn einhüllte, wäre er in einem Augenblick tot.

Verschwinde von hier!

Und dann spürte Schofield auf einmal, wie ihn etwas gegen die Schulter stieß, und er drehte sich um.

Es war Wendy!

Schofield packte sie am Gurt, und Wendy schoss sofort davon.

Die Eiswand jagte ihnen nach, dehnte sich mit phänomenaler Geschwindigkeit im Wasser aus, vergrößerte sich exponentiell.

Wendy schwamm, so rasch sie konnte, und zog Schofield mit sich. Aber er war schwerer als Kirsty, und sie schwamm langsamer als vorher.

Die Eiswand kam ihnen immer näher.

Ein weiterer Seeelefant, der ein leichtes Mahl zu erspähen glaubte, näherte sich schwungvoll von hinten, aber die Eiswand erwischte die große Robbe, hüllte sie in ihre sich ausdehnende Masse ein und verschluckte sie völlig, und die Robbe erfror in ihrem eisigen Inneren.

Wendy schwamm zur Oberfläche, wobei sie geschickt jedem Seeelefanten auswich, der versuchte, ihr den Weg abzuschneiden.

Sie erblickte die Oberfläche und zog Schofield darauf zu.

Die Wand hinter ihnen hatte an Schwung verloren. Der Stickstoff aus der Granate dehnte sich nicht weiter aus. Die Eiswand fiel zurück.

Wendy schoss aus dem Wasser, wobei Schofield sie noch immer am Gurt festhielt. Beide plumpsten täppisch auf den eisigen Boden der Höhle und Schofield fand sich auf dem Bauch liegend wieder. Er wälzte sich auf den Rücken...

... und sah einen weiteren Seeelefanten aus dem Wasser springen und eilig auf ihn zukommen!

Schofield wälzte sich weiter herum. Der Seeelefant fiel gleich neben ihm auf den Boden. Schofield sprang auf, wirbelte herum und suchte die anderen.

»Lieutenant! Hier drüben! Hier drüben!«, kreischte Sarah Hensleighs Stimme.

Schofield fuhr herum und sah Sarah Hensleigh aus einem kleinen horizontalen Loch in der Wand in etwa zwanzig Metern Entfernung winken.

Renshaw, Kirsty - und auch Wendy - liefen bereits auf den horizontalen Riss zu. Schofield rannte hinter ihnen her. Während er durch die Höhle lief, sah er, wie Kirsty sich durch das horizontale Loch wälzte, daraufhin sah er, wie Wendy ihr folgte, dann Renshaw.

Plötzlich überspülte Schofields Bewusstsein ein statisches Rauschen, und eine Stimme schrie ihm laut ins Ohr:

»... du dort draußen? Scarecrow, bist du dort draußen? Antworte bitte!« Es war Romeo.

»Was ist, Romeo?«

»Mein Gott! Wo bist du gewesen? Ich habe dich während der letzten zehn Minuten zu erreichen versucht.«

»Ich hatte zu tun. Was ist los?«

»Verschwinde aus der Station! Verschwinde sofort aus der Station!«

»Das kann ich jetzt nicht, Romeo«, sagte Schofield, während er rannte.

»Scarecrow, du verstehst nicht. Die Air Force hat uns gerade angerufen. Eine Gruppe von F- 22 hat gerade einen britischen Fighter etwa 250 nautische Meilen vor der Küste abgeschossen, aber das feindliche Flugzeug hat eine Rakete abgefeuert, ehe es getroffen worden ist.« Romeo hielt inne. »Scarecrow, die nimmt genau Ziel auf die Eisstation Wilkes. Satellitenmessungen der Strahlungsemission der Rakete deuten daraufhin, dass sie einen Nuklearsprengkopf hat.«

Beim Laufen verspürte Schofield, wie es ihm kalt den Rük-ken hinunterlief. Er erreichte den Spalt in der Wand und fiel zu Boden wie ein Baseballspieler und glitt durch den horizontalen Spalt.

»Wie lange noch?«, fragte er, als er in dem kleinen Tunnel landete. Er ignorierte die anderen, die um ihn herumstanden. »300 Kilometer mit 480 Kilometern pro Stunde. Das gibt dir siebenunddreißig Minuten bis zur Detonation. Aber das war vor neun Minuten, Scarecrow. Ich habe versucht, zu dir durchzukommen, aber du hast nicht geantwortet. Du hast achtundzwanzig Minuten, bis eine Atombombe diese Eisstation trifft. Achtundzwanzig Minuten.«

»Klasse«, meinte Schofield und blickte auf seine Uhr.

»Scarecrow, tut mir Leid, aber ich kann nicht hier bleiben. Ich muss meine Männer in sichere Entfernung bringen. Tut mir Leid, aber du bist jetzt auf dich selbst gestellt, Kumpel.«

Schofield schaute auf seine Uhr.

Es war 22.32 Uhr.

Achtundzwanzig Minuten. Die Rakete mit dem Atomsprengkopfwürde die Eisstation Wilkes um 23.00 Uhr treffen.

Schofield blickte zu der Gruppe um sich herum auf. Sarah Hensleigh, Renshaw, Kirsty und Wendy. Und Gant. Erst da ging Schofield auf, dass Gant ebenfalls im Tunnel war. Sie saß auf dem eisigen Boden. Er sah den hässlichen roten Fleck an ihrer Seite und eilte zu ihr hinüber.

»Montana?«, fragte er.

Gant nickte.

»Wo ist er?«, fragte Schofield.

»Er ist tot. Die Robben haben ihn erwischt. Aber er hat Santa Cruz getötet und mich angeschossen.«

»Bist du in Ordnung?«

»Nein«, erwiderte Gant und zuckte zusammen.

Da sah Schofield die Wunde. Es war ein Bauchschuss, neben Gants Magen. Die Kugel musste sich an der seitlichen Klammer ihres Körperschutzes vorbeigemogelt haben. Es war keine angenehme Verletzung - ein Bauchschuss bedeutete einen langsamen und schmerzhaften Tod.

»Halt durch«, sagte Schofield. »Wir werden dich hier rausbringen...«

Er zerrte Gant weg, aber dabei streifte ihn Gant grob am Bein, so dass etwas aus seiner Tasche am Fußknöchel herausfiel.

Es war ein silbernes Medaillon.

Sarah Hensleighs Silbermedaillon. Das Medaillon, das sie Schofield gegeben hatte, bevor sie in die Höhle hinabgetaucht war.

Das Medaillon landete mit der Rückseite nach oben auf dem eisigen Boden und in einem flüchtigen Moment sah Schofield die dort eingravierte Inschrift:

Für unsere Tochter

Sarah Therese Parkes

Zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag.

Schofield erstarrte beim Anblick der Gravur. Rasch zog er seinen Ausdruck von Andrew Trents E-Mail aus der Tasche.

Er überflog die Liste der ICG-Informanten.

Und er fand es.

PARKES, SARAH T. USC PLNTLGST

Schofield fuhr hoch und blickte Sarah Hensleigh an.

»Wie lautet Ihr Mädchenname, Sarah?«, fragte er.

Klick-klick.

Schofield hörte das Geräusch, wie ein Hahn gespannt wurde, ehe er den Revolver hinter Sarah Hensleighs Rücken auftauchen sah.

Sarah Hensleigh hielt den Revolver auf Armeslänge ausgestreckt vor sich, auf Schofields Kopf gerichtet. Mit der freien Hand zog sie Santa Cruz' Helm hinter sich hervor und stellte den Kanal an der Gürtelschnalle ein. Sie sprach in den Helmfunk.

»SEAL-Team, hier ist Hensleigh. Bitte kommen!«

Es erfolgte keine Antwort. Hensleigh runzelte die Stirn.

»SEAL-Team, Hensleigh hier. Bitte kommen!«

»Da oben ist niemand, Sarah«, sagte Schofield und hielt Gant in den Armen. »Sie haben die Station evakuiert. Sie sind weg. Gerade ist eine Cruise Missile auf dem Weg hierhin, und sie hat einen Atomsprengkopf, Sarah. Diese SEALs sind längst verschwunden. Wir müssen ebenfalls von hier verschwinden.«

Plötzlich hörte Schofield eine Stimme über Sarahs Helmfunk.

»Hensleigh, hier ist SEAL Commander Riggs. Berichten Sie!«

Schofield krümmte sich und blickte auf seine Uhr.
22.35 Uhr. Noch fünfundzwanzig Minuten.

Er wusste nicht, dass die SEALs oben in der Station auf einen internen Kanal umgeschaltet hatten, um ihren Angriff auf Wilkes durchzuführen. Er wusste auch nicht, dass sie nichts von der Rakete mit dem Atomsprengkopf wussten, die auf die Station zujagte.

»SEAL Commander«, sagte Hensleigh, »ich habe hier unten den Marine Commander bei mir in der Höhle. Ich habe ihn zwangsweise unter Arrest genommen.«

»Wir werden bald unten sein, Hensleigh. Sie sind autorisiert, ihn zu töten, wenn es sein muss. Seal-Team Ende.«

»Sarah, was tun Sie da?«, fragte Renshaw.

»Hält's Maul«, erwiderte Sarah und schwang die Waffe herum, so dass ihr kalter Lauf Renshaws Nase berührte. »Dort drüben hin«, sagte sie und winkte Renshaw und Kirsty an Schofields Seite des Tunnels. Schofield bemerkte, dass Sarah Hensleigh die Waffe mit Zuversicht und Autorität hielt. Sie hatte früher schon von der Waffe Gebrauch gemacht.

»Woher kommen Sie, Sarah?«, fragte Schofield. »Army oder Navy?«

Einen Augenblick lang sah ihn Sarah an. Dann erwiderte sie: »Army.«

»Welche Abteilung?«

»Ich war eine Weile lang beim CDC in Atlanta. Damals habe ich ein paar Arbeiten für die Abteilung für chemische Kampfstoffe erledigt. Und daraufhin, hätten Sie's gewusst, habe ich plötzlich den Drang verspürt, zu lehren.«

»Waren Sie bei der ICG bevor oder nachdem Sie an die Universität gegangen sind?«

»Vorher«, erwiderte Hensleigh. »Lange vorher. Teufel, Lieutenant, die ICG hat mich an die USC geschickt. Sie haben mich darum gebeten, mich von der Army zurückzuziehen, haben mir eine lebenslange Pension gezahlt und mich zur Universität geschickt.«

»Weswegen?«

»Sie wollten wissen, was dort vor sich ging. Insbesondere wollten sie etwas von der Forschung über Eiskerne erfahren -sie wollten etwas über die Chemie der Gase wissen, die Leute wie Brian Hensleigh vergraben im Eis fanden. Gase aus hoch toxischen Umgebungen, die vor Hunderten von Millionen Jahren verschwunden sind. Varianten des Kohlenmonoxids, reine Chlorgasmoleküle. Die ICG wollte etwas darüber erfahren - für so etwas haben sie Verwendung. Also habe ich mich in dieses Gebiet eingearbeitet und ich habe Brian Hensleigh kennengelernt.« »Sie haben ihn geheiratet«, fragte Renshaw, »um aus ihm Informationen herauszuholen?«

Kirsty drüber in der Ecke des Tunnels folgte dem Gespräch wie gelähmt.

»Ich habe bekommen, was ich wollte«, erwiderte Sarah Hensleigh. »Ebenso wie Brian.«

»Haben Sie ihn getötet?«, fragte Renshaw. »Der Autounfall?«

»Nein«, entgegnete Hensleigh. »Habe ich nicht. Die ICG war darin überhaupt nicht verwickelt. Es war genau dies, ein Unfall. Nennen Sie es, wie Sie wollen, Bestimmung, Schicksal. Es ist einfach passiert.«

»Haben Sie Bernie Olson getötet?«, fragte Schofield rasch.

Sarah hielt inne, ehe sie diese Frage beantwortete.

»Ja«, erwiderte sie. »Ich habe ihn getötet.«


»Oh, Sie verdammte Hure!«, meinte Renshaw.

»Bernie Olson war ein Lügner und Dieb«, sagte Hensleigh. »Er wollte Renshaw zuvorkommen und seine Entdeckungen publizieren. Eigentlich war mir das wirklich ziemlich egal. Aber dann, als Renshaw in fünfhundert Metern Tiefe auf Metall traf, da hat

Olson mir gesagt, dass er das auch publizieren würde. Und das konnte ich einfach nicht zulassen. Nicht ohne die ICG davon vorher zu informieren.«

»Nicht ohne die ICG vorher davon zu informieren«, wiederholte Schofield bitter.

»Es ist unsere Aufgabe, alles als erste zu erfahren.«

»Also haben Sie ihn umgebracht«, sagte Schofield. »Mit Seeschlangengift. Und Sie haben dafür gesorgt, dass es so aussah, als ob Renshaw es getan hätte.«

Sarah Hensleigh sah Renshaw an. »Tut mir Leid, James, aber Sie sind ein bei weitem zu einfaches Ziel gewesen. Sie und Bernie haben sich die ganze Zeit über gestritten. Und als Sie sich in dieser Nacht stritten, war die Gelegenheit einfach zu günstig, um sie verstreichen zu lassen.«

Schofield blickte auf seine Uhr. »Sarah, hören Sie zu. Ich weiss, Sie glauben mir nicht, aber wir müssen hier raus. Da ist eine Rakete mit Atomsprengkopf...«

»Es gibt keine Rakete«, fauchte Hensleigh. »Wenn es eine gäbe, wären die SEALs nicht hier.«

Schofield warf erneut einen Blick auf seine Uhr.
22.36 Uhr.

Scheiße, dachte er. Es war so frustrierend. Sie steckten hier fest, der Gnade von Sarah Hensleigh ausgeliefert. Und sie würde einfach hier warten, bis der Atomsprengkopf einträfe und sie alle umbrächte.

Genau in diesem Moment schlug Schofields Uhr auf 22.37 Uhr um.

Schofield hatte nichts von den achtzehn Tritonal-80/20-La-dungen gewusst, die Trevor Barnaby in einem Halbkreis um die Eisstation Wilkes gelegt hatte in der Absicht, einen Eisberg zu erzeugen.

Hatte nicht gewusst, dass exakt vor zwei Stunden - um 20.37 Uhr -, als Barnaby allein in der Taucherglocke gewesen war, er eine Zeitschaltuhr vorbereitet hatte, so dass die Tritonalladungen zwei Stunden später zündeten.

Die achtzehn Tritonalladungen detonierten im selben Moment, und die Explosion war absolut verheerend.

Drei Meter fünfzig hohe Fontänen aus Schnee schössen in die Luft. Ein ohrenbetäubend lautes Ächzen hallte über die Landschaft, als sich ein tiefer, halbkreisförmiger Abgrund im Eisschelf ausbildete. Und dann, plötzlich, mit einem lauten, bedrohlichen Krack, fiel der Teil des Eisschelfs, der die Eisstation Wilkes und alles übrige darunter barg - ganze drei Kubikkilometer von Eis -, jäh davon und rutschte langsam ins Meer.

Unten im Eistunnel der Höhle legte sich die Welt wie verrückt schräg. Eisbrocken regneten auf alle im Tunnel herab. Die gemeinsame Explosion der achtzehn Tritonalladungen tönte wie ein gewaltiger Donnerschlag.

Zunächst glaubte Schofield, dies sei der Atomsprengkopf der Rakete. Glaubte, Romeo habe einen schrecklichen Fehler begangen und der Sprengkopf sei eine halbe Stunde früher als erwartet eingetroffen. Dann jedoch begriff Schofield, dass es etwas anderes sein musste - wenn es der Atomsprengkopf gewesen wäre, wären sie jetzt bereits alle tot.

Plötzlich schwankte der Tunnel und Sarah Hensleigh verlor das Gleichgewicht. Renshaw ergriff die Gelegenheit, sprang vor und griff sie an. Beide trafen hart auf die Eiswand, aber Hensleigh warf Renshaw einfach beiseite.

Schofield hielt noch immer Gant fest. Er legte Gant hin und wollte aufstehen, doch Sarah Hensleigh fuhr herum und richtete ihre Waffe direkt auf sein Gesicht.

»Tut mir Leid, Lieutenant, irgendwie habe ich Sie eigentlich gemocht«, meinte sie.

Trotz des Höllenlärms rings um sie herum war das Geräusch der abgefeuerten Waffe in dem kleinen Tunnel ohrenbetäubend.

Schofield sah Sarah Hensleighs Brust in einem Schwall Blut explodieren.

Dann sah er, wie ihr die Augen aus den Höhlen traten, die Knie einknickten und sie tot zu Boden stürzte.

Schofields Desert Eagle rauchte noch, als Gant sie in Schofields Oberschenkelholster zurücksteckte. Schofield hatte nie eine Chance gehabt, sie zu ziehen, ganz im Gegensatz zu Gant unten neben seinen Knien.

Kirsty starrte die Szene einfach nur mit offenem Mund an. Schofield eilte zu ihr hinüber.

»Um Gottes willen, bist du in Ordnung«, sagte er. »Deine Mutter...«

»Sie war nicht meine Mutter«, meinte Kirsty leise.

»Wäre es in Ordnung, wenn wir darüber später reden würden?«, fragte Schofield. »In etwa zweiundzwanzig Minuten wird dieser Ort hier nur noch Wasserdampf sein.«

Kirsty nickte.

»Mr. Renshaw«, sagte Schofield, während er die zitternden Wände rings um sich her ansah. »Was ist hier los?«

»Ich weiß es nicht...«, erwiderte Renshaw.

In diesem Augenblick schwankte der ganze Tunnel jäh und fiel etwa zwanzig Zentimeter hinab.

»Es fühlt sich an, als ob das Eisschelf vom Festland losgelöst worden wäre«, meinte Renshaw. »Es ist zu einem Eisberg geworden.«

»Ein Eisberg...«, sagte Schofield und seine Gedanken kreisten. Urplötzlich fuhr sein Kopf hoch, und er sah Renshaw an. »Sind diese Seeelefanten noch draußen in dieser Höhle?«

Renshaw blickte durch den Spalt hinaus.

»Nein«, erwiderte Renshaw. »Sie sind weg.«

Schofield ging durch den Tunnel, hob Gant mit den Armen hoch und trug sie zum Spalt. »Das hatte ich mir gedacht«, sagte er. »Ich habe den Bullen getötet. Sie sind jetzt vielleicht auf der Suche nach ihm.«

»Wie kommen wir hier raus?«, fragte Renshaw.

Schofield hob Gant zum Spalt hoch und schob sie hindurch. Daraufhin wandte er sich mit leuchtenden Augen Renshaw zu.

»Wir werden hier rausfliegen.«

Der große schwarze Fighter stand protzig mitten in der unterirdischen Höhle - die scharf zugespitzte Nase war nach unten gekippt, ebenso die schlanken schwarzen Tragflächen. Große Eisbrocken regneten vom hohen Höhlendach herab und explodierten auf seinem Rumpf.

Schofield und die anderen rannten über den bebenden Höhlenboden und suchten Schutz unter dem Bauch des großen schwarzen Flugzeugs.

Schofield hielt Gant in den Armen und sie zeigte ihm die Tastatur und das Display für den Zutrittscode.

Der Zutrittscode glühte grünlich.

24157817

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

ENTER AUTHORIZED ENTRY CODE

»Hat jemand den Code herausbekommen?«, fragte Schofield.

»Hensleigh hat daran gearbeitet, aber ich glaube nicht, dass sie ihn herausbekommen hat.«

»Also kennen wir den Code nicht«, meinte Schofield.

»Nein«, sagte Gant.


»Prächtig.«

In diesem Augenblick trat Kirsty neben Schofield und blickte auf das Display.

»Hee«, sagte sie, »Fibonacci-Zahl.«

»Was?«, fragten Schofield und Gant gleichzeitig.

Kirsty zuckte befangen die Achseln. »24157817. Es ist eine Fibonacci-Zahl.«

»Was ist eine Fibonacci-Zahl?«, fragte Schofield.

»Fibonacci-Zahlen sind eine Art von Zahlenfolge«, erwiderte Kirsty. »Es ist eine Folge, bei der jede Zahl die Summe der beiden vorhergehenden Zahlen ist.« Sie sah die erstaunten Blicke um sich her. »Mein Papa hat mir das gezeigt. Hat jemand ein Blatt Papier und einen Stift?«

Gant hatte das Tagebuch, das sie zuvor in ihrer Tasche gefunden hatte. Renshaw hatte einen Stift. Zunächst tropfte tintenfarbiges Wasser heraus, dann jedoch funktionierte er. Kirsty kritzelte einige Zahlen in das Tagebuch.

»Die Folge geht so«, sagte Kirsty. »0, l, l, 2,3,5, 8,13 und so weiter. Man addiert einfach die ersten beiden Zahlen und erhält so die dritte Zahl. Dann addiert man die zweite und die dritte Zahl und erhält die vierte. Wenn ihr mir eine Minute Zeit lasst...«, sagte Kirsty, als sie sich daran machte, wie wild Zahlen niederzuschreiben.

Schofield blickte auf seine Uhr.

22.40 Uhr.

Noch zwanzig Minuten.

Während Kirsty im Tagebuch kritzelte, sagte Renshaw zu Schofield: »Lieutenant, wie wollen Sie eigentlich genau hier herausfliegen?«

»Da durch«, erwiderte Schofield abwesend und zeigte dabei auf den Wassertümpel auf der anderen Seite der Höhle. »Was?«, meinte Renshaw, aber Schofield hörte nicht zu. Er blickte auf das Tagebuch hinab, während Kirsty darin schrieb.

Nach zwei Minuten hatte sie fünf Zahlenreihen niedergeschrieben. Schofield überlegte, wie lange das hier dauern würde. Er sah die Zahlen an, wie sie diese niederschrieb:

0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144, 233, 377, 610, 987, 1597, 2584, 4181, 6795, 10.946, 17.711, 28.657, 46.368, 75.025, 121.393, 196.418,317.811, 514.229, 832.040, 1.346.269, 3.524.578, 5.702.887, 9.227.465, 14.930.352, 24.157.817

»Und sehen Sie hier«, sagte Kirsty. »Da haben Sie Ihre Zahl. 24.157.817.«

»Heilige Scheiße«, meinte Schofield. »Okay dann. Wie lauten die nächsten beiden Zahlen der Reihe?«

Kirsty kritzelte noch etwas nieder.
39.088.169,63.245.986

»Das sind sie«, sagte Kirsty und zeigte Schofield das Tagebuch.

Schofield nahm es und sah darauf. Sechzehn Zeichen. Sechzehn Leerstellen zu füllen. Erstaunlich. Schofield drückte die Tasten auf der Tastatur.

Das Display piepte.

24157817 3908816963245986

ENTRY CODE ACCEPTED.

OPENING SILHOUETTE

Es folgte ein unheimliches Surren aus dem Innern des großen schwarzen Schiffs und dann sah Schofield plötzlich, wie sich eine schmale Treppe langsam aus dem Bauch des schwarzen Schiffs entfaltete.

Er gab Kirsty einen Kuss auf die Stirn. »Ich hätte nie gedacht, dass mir Mathe das Leben retten würde. Kommt schon!«

Und mit diesen Worten betraten Schofield und die anderen das große schwarze Schiff.

Sie betraten eine Art Raketenschacht. Schofield sah sechs Raketen auf zwei dreieckigen Ständern befestigt, drei Raketen pro Ständer. Schofield trug Gant über den Raketenschacht und legte sie auf den Boden, gerade als Renshaw und Kirsty den Bauch des Flugzeugs betraten. Wendy hoppelte täppisch die Stufen hinter ihnen hinauf. Sobald die kleine Robbe sicher im Innern war, zog Renshaw die Treppe hinter ihr hoch.

Schofield eilte nach vorn ins Cockpit. »Erzähl mir was, Gant!«

Gant rief nach vorn, wobei die Schmerzen aus ihrer Stimme deutlich herauszuhören waren: »Sie haben es ›Silhouette‹ genannt. Es hat irgendeine Art von Tarnkappenvorrichtung, über die wir nichts herausbekommen haben. Hat was mit dem Plutonium zu tun.«

Schofield betrat das Cockpit.

»Wow!«

Das Cockpit sah erstaunlich aus - futuristisch -, insbesondere für ein Flugzeug, das im Jahr 1979 gebaut worden war. Es gab zwei Sitze: einen nach vorn gerichtet, rechts, der andere - der Sessel für den Radarbediener/Schützen - links dahinter. Die Steilheit des Cockpits - es wies scharf nach unten - bedeutete, dass der Pilot im vorderen Sitz ein gutes Stück unterhalb des Schützen im Rücksitz saß.

Schofield sprang in den Pilotensitz und gerade in diesem Moment - boinng! - explodierte ein großer Eisbrocken draußen am Cockpit.

Schofield starrte die Konsole vor sich an: vier Computermonitore, Steuerknüppel, überall Knöpfe, Skalen und Anzeigen. Es wirkte wie ein erstaunliches Hightech-Puzzle. Schofield spürte, wie ihn jäh eine Woge der Panik überlief. Er wäre nie imstande herauszubekommen, wie dieses Flugzeug zu fliegen war. Nicht innerhalb von achtzehn Minuten.

Dann jedoch, als er die Konsole näher unter die Lupe nahm, erkannte Schofield allmählich, das diese sich eigentlich nicht so sehr von den Konsolen in den Harriers unterschied, die er in Bosnien geflogen hatte. Dies war schließlich ein von Menschen hergestelltes Flugzeug - warum sollte es anders sein?

Schofield hatte den Zündschalter gefunden und gedrückt.

Nichts geschah.

Treibstoffzufuhr, dachte er. muss die Treibstoffpumpe anwerfen.

Schofield suchte nach dem Schalter für die Treibstoffzufuhr. Fand ihn, drückte ihn. Daraufhin drückte er erneut die Zündung.

Nichts gesch...

VRRRUMMMM!

Die Turbinen der Zwillingstriebwerke der Silhouette sprangen brüllend an und Schofield spürte sein Blut in Wallung geraten. Das Geräusch anspringender Motoren war einfach unvergleichlich.

Er brachte die Motoren auf Touren. Er musste sie erst warm laufen lassen.

Zeit, dachte Schofield.

22.45 Uhr.

Noch fünfzehn Minuten.

Er brachte die Motoren weiterhin auf Touren. Gewöhnlich dauert eine solche Aufwärmroutine bis zu zwanzig Minuten.

Schofield gab sich zehn.

Gott, würde das eng werden!

Shane Schofield 01 - Ice Station
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